Gesättigte Märkte und Digitalisierungsdruck stellen Unternehmen vor Herausforderungen: Wie gelingt es, die Geschäftsentwicklung voranzutreiben, wenn Produkte und Dienstleistungen zunehmend austauschbar werden? Ein Denkanstoß.
Fast jeder Wirtschaftsbereich ist vom Strukturwandel betroffen: Digitalisierung, neue Technologien, dynamische und globalisierte Märkte sowie zunehmend anspruchsvolle Kundenanforderungen und schnellere Innovationszyklen üben einen enormen Handlungsdruck auf Unternehmen aus. Auf der Suche nach der passenden Strategie für den Wandel, sollten Verantwortliche sich von branchenfremden Unternehmen inspirieren lassen.
Trotz branchenspezifischer Unterschiede gibt es Muster, die sich durch viele Sektoren hindurchziehen. Ob Fertigungsprozesse, Managementsysteme, Produktivität, Krisenbewältigung, Service, Kultur, Organisation oder Effizienzprogramme – unzählige Methoden und strategische Ansätze lassen sich weit über Branchengrenzen hinweg transferieren. Angefangen bei den Fragen: Was sind die Kernbestandteile eines Operating Models? Wie gelingt es Unternehmen, Transformationsvorhaben zu planen – wie setzten sie ein Effizienzprogramm auf und um? Was sollten Verantwortliche bei einer Post-Merger-Integration beachten?
Wir müssen das Rad nicht immer wieder neu erfinden, um unser Geschäftsmodell weiterzuentwickeln. Andere Unternehmen haben oftmals schon einen ähnlichen Prozess erfolgreich implementiert. Warum lassen wir uns nicht von erfolgreichen Methoden inspirieren? Natürlich immer vor dem Hintergrund der eigenen Marktbedingungen, Managementkultur und Organisationsstruktur. Copy & Customize, statt Copy & Paste! Für die Organisations- und Geschäftsentwicklung ist das branchenspezifische Knowhow oftmals gar nicht das wichtigste Element, sondern die Frage: Was sind die allgemeinen Schritte und grundsätzlichen Ansätze, die übertragbar sind? Erst im zweiten Schritt sind dann Adaptionen und spezifische Feinjustierungen notwendig.
Im produzierenden Gewerbe gibt es Produktionsfaktoren wie Personal, Organisation, Betriebsmittel und Werkstoffe. Da ist es erst einmal egal, ob ein Unternehmen Stahlgewinde, Roboter oder Containerschiffe herstellt. Um mit möglichst geringem Ressourcen-Aufwand eine maximale Produktivität zu erreichen, orientieren sich viele Maschinenbauer am Lean Management Ansatz aus der Automobilindustrie. Bei Serienproduktion lässt sich dieser Ansatz relativ einfach übernehmen. Aber geht dies auch in der Einzelfertigung und im komplexen Anlagenbau?
Die Verantwortlichen der Meyer Werft in Papenburg haben bewiesen: Es geht – und haben Prozesse weitestgehend den Lean-Management-Prinzipien unterworfen, eine Fertigungsstraße in der Werft etabliert, die Taktfertigung eingeführt sowie unternehmensspezifische Kanban-Systeme implementiert. Damit konnte das Unternehmen die Wartezeiten minimieren, die Bauzeiten deutlich verkürzen, Materialverschwendungen senken und die Fehlerquote auf ein absolutes Minimum verringern. Das 1795 gegründete Familienunternehmen ist heute weltweit unangefochtener Branchen-Primus im Kreuzfahrtschiffbau.
Natürlich sollten Verantwortliche nicht blind Geschäftsmodelle kopieren. Es geht darum, sich wie die Meyer Werft inspirieren zu lassen und Ansätze auf die eignen individuellen Bedingungen anzupassen. Ein Paradebeispiel hierfür bieten chinesische Unternehmen, die den letzten 10 Jahren viele deutsche Firmen aufkauften, darunter: Kuka, Osram und Heidelberger Druck. Anfangs ging es den chinesischen Unternehmen auch vorrangig um einen Technologie-Transfer von Deutschland nach China. Das einfache Kopieren ging so nicht auf. Doch sehr schnell adaptierten die Chinesen Geschäftsvorgänge und Prozesse auf die eigenen Organisationsstrukturen und Managementsysteme und entwickelten sich schwindelerregender Geschwindigkeit zu Top-Innovatoren der Welt. Die meisten Windkraftanlagen und Elektroautos werden heute in China gebaut und betrieben.
Davon können sich deutsche Unternehmen wiederum inspirieren lassen. Die moderne Industrie-Infrastruktur existiert hierzulande – was wir von den Chinesen lernen können, ist Geschwindigkeit, Flexibilität und ein hoch-pragmatischer Going-to-Market-Ansatz. Es reicht in der Regel schon aus, nur das Kernkonzept eines branchenfremden Unternehmens zu übernehmen und alles Weitere – von Geschäftsmodell und Operating Model bis zum Vertrieb – auf die eigenen Anforderungen hin zu justieren. Allerdings sollten Verantwortlich auch wissen, welche Potenziale noch im Unternehmen schlummern.
Beispielsweise erkennen Unternehmen oftmals die Chancen nicht, ihren Service als Vertriebskanal zu nutzen. Hier ist ein Blick auf die Telekommunikationsbranche hilfreich: Angefangen mit Cross- und Upselling von Seiten der Techniker, die beim Kunden vor Ort sind – und Zusatzmodule anbieten, die zwar mehr kosten, aber aus Kundensicht langfristig rentabler sind. Service-Techniker stehen im direkten Kundenkontakt, genießen das Vertrauen der Kunden und tragen dadurch ohnehin zur Kundenbeziehung bei. Da ist es doch nur förderlich, wenn sie auch den Weitblick entwickeln und über den Service hinaus Zusatzleistungen oder -Produkte anbieten, die einen Mehrwert für den Kunden bieten. Das gilt für den B2B-Bereich genauso, wie für B2C. Wenn Unternehmen Neugeschäft generieren wollen, sollten sie verstehen: Service ist heute viel mehr, als Installation und Wartung. Service ist ein vielfältiges Geschäftsmodell.
Tatsächlich bietet Service zahlreiche Möglichkeiten zur Geschäftsentwicklung, beispielsweise vor dem Hintergrund der Frage: Wie können wir Kundendaten erheben, auswerten und derart aufbereiten, um daraus Managemententscheidungen abzuleiten? Softwarefirmen drängen sich mit Software-as-a-Service-Lösungen (Saas) zunehmend zwischen Anbieter und Kunde – und laufen Anbietern somit den Rang ab. Sie erheben Daten, bieten Services wie Predictive Maintainance an und werden zum wichtigen Geschäftspartner – obwohl sie lediglich über Methodenkenntnisse, nicht aber über das technische Knowhow des Produktanbieters verfügen. Um das zu verhindern, sollten Anbieter sich Wissen aus der Softwareentwicklung und dem Datenmanagement ins Haus holen und die internen Service-Strukturen ausbauen.
Denn: Service ist auch im Kontext der Digitalisierung ein Zukunftsthema, das über alle Branchengrenzen hinweg immer relevanter wird. Allgemein betrachtet stehen Unternehmen hier vor sehr ähnlichen Problemen: Wie können wir mithilfe digitaler kundenorientierter Services unser Geschäftsmodell erweitern? Wie können wir durch digitalisierte Prozesse unsere Effizienz steigern? Welche Geschäftsbereiche werden aufgrund der Digitalisierung obsolet und müssen abgestoßen werden? Wo fehlt uns digitales Knowhow?
Nun wurden einige Branchen schon früher mit der digitalen Transformation konfrontiert, als andere. Die Medien- und Verlagsbranche musste sich frühzeitig digitale Strategien überlegen, um die rasant schwindende Leserschaft woanders aufzufangen. Das Medienhaus Axel Springer hat vor 20 Jahren eine digitale Transformation eingeleitet und ist heute ein Medien- und Technologieunternehmen, das digitale Plattformen (Stepstone, Immowelt) und Portale (Ladenzeile) betreibt sowie in der Digital-Beratung tätig ist (Eprofessional). Wer sich erst jetzt zu Corona-Zeiten mit Digitalisierung auseinandersetzt, findet in der Medienbranche bestimmt Inspiration zu Transformationsansätzen.
Wir bewegen uns zunehmend von einer Informations- zu einer Wissensgesellschaft. Wissen ist nicht statisch, sondern generiert sich immer wieder neu und entwickelt sich weiter. In Unternehmen gilt dasselbe. Verantwortliche sollten ihr Unternehmen als lernende Organisation begreifen, in der die Belegschaft Bestehendes immer wieder hinterfragt und in der alle Beteiligten andersartigen Ansätzen aus diversen Branchen mit Neugier begegnen. Das muss nicht nur Produktionsmethoden, Technik und Produkte betreffen, sondern auch die Umsetzung. Anstatt penibel auf Spezifikationen und Prozessdiagramme zu blicken, sollten Verantwortliche ihr Unternehmen aus einer anderen Perspektive betrachten und sich fragen:
Was sind unsere Ziele? Was wollen wir am Ende wie erreichen? Welchen Kundennutzen bieten wir? Und welche Branchen haben schon Erfahrung mit unserer Problemstellung? In Bezug auf Projektmanagement können konservative Branchen, wie der Anlagen- oder Schiffbau, auch viel von der SCRUM-Methode aus der Softwareentwicklung lernen, um Projekte sicherer, schneller und kundenbezogener umzusetzen. Das gilt besonders für den Planungsprozess am Anfang. Dazu gehören eine andere Kooperationsbereitschaft und ein konstruktives, neugieriges Management – und die Bereitschaft, die Komfortzone zu verlassen. Aus Inspiration entstehen Ideen – aus Ideen neues Geschäft.
Peter Kuhle
Peter Kuhle ist Koautor des Beitrags. Der preisgekrönte Interim Manager ist spezialisiert auf Transformation und Effizienz in Vertrieb, Direktvertrieb, After Sales, Service sowie im technischen Kundendienst.