Seit der Industrialisierung ist unsere gesellschaftliche Entwicklung geprägt von immer neuen technischen Errungenschaften. Von der Eisenbahn über das Fernsehen bis hin zum Internet und KI förderten sie unsere Vernetzung und erhöhten die Reichweite unserer Handlungen.
Ohne Technik konnten Handelnde den direkten Folgen seiner Tat nicht ausweichen. Wer jemandem die Faust ins Gesicht boxt, wird das Nasenblut vielleicht sogar an seiner Hand haben. Wir nehmen das Leiden unseres Opfers direkt wahr und können es aufgrund der Nähe zum Opfer entsprechend antizipieren. Inzwischen vernetzt uns Technik so stark, dass Täter und Opfer sich nie gesehen haben müssen und unter Umständen auch gar nicht voneinander wissen.
Spätestens der zweite Weltkrieg, mit dem Abwurf der Atombomben und der Errichtung systemischer Vernichtungslager machte uns diese Entfremdung bewusst. Seit dieser Zeit treibt vor allem hoch technologisierte Industrienationen eine Frage herum: Wie schaffen wir es trotz entfremdender Technik, weitreichende Auswirkungen in unsere Handelsabsichten einzubeziehen? Wie können wir trotz Technik Verantwortung für unser Handeln gegenüber Mitmenschen und Natur übernehmen?
Ein Weg zu mehr Verantwortungswahrnehmung und -übernahme gegenüber Mitmenschen, eröffnete sich durch die Gründung von international vernetzenden Organisationen wie den Vereinten Nationen. In diesem Rahmen kam es zur Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die Idee der Entwicklungspolitik etablierte sich. Alle Menschen sollten am wirtschaftlichen Wohlstand der Industrialisierung, das heißt den positiven Auswirkungen der Technik, teilhaben.
Im Bezug auf die Übernahme von Verantwortung gegenüber der Natur etablierte sich international der Begriff der Nachhaltigkeit. Dieser kam ursprünglich aus der Forstwirtschaft. Nachhaltiges Forstwirten bedeutet nach Carl Gustav von Carus, den Wald nur in dem Ausmaß für die eigenen Zwecke zu nutzen, dass er für zukünftige Generationen erhalten bleibt. Immer öfter wurde Entwicklungs- und Umweltpolitik zum Ende des 20. Jahrhunderts zusammen gedacht. So zum Beispiel in internationalen Initiativen wie der Expertenrunde zu Zukunftsfragen „Club of Rome“ oder dem Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Nachhaltig ist demzufolge eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“1
Diese Entwicklungen schufen ein Bewusstsein für die weitreichenden Auswirkungen des Handelns in einer vernetzten Welt, allerdings standen die Umsetzungsmaßnahmen oft in der Kritik. Entwicklungspolitik wurde um die Jahrtausendwende zunehmend als kostspielig und ineffizient wahrgenommen. Die Hilfsprogramme wurden Top-down, also von oben herab, entwickelt. Sie waren gut gemeint, gingen jedoch sie oft an den Bedürfnissen der Empfänger vorbei, da diese nicht oder nur gering im Entstehungsprozess der Entwicklungsprogramme eingebunden waren.
Mit der zeitgleichen Verbreitung der Digitalisierung wurde eine neue Bottom-up-Organisationsstruktur geprägt, die u.a. den digitalen Plattformen des Silicon Valleys zum Erfolg verhalf. Produkte und Problemlösungen werden unter Einbezug der Betroffenen durch Erproben und Anpassen erarbeitet und überarbeitet. Das sichert eine hohe Passgenauigkeit, Flexibilität und vor allem Nutzerfreundlichkeit. Diese Verantwortungsübernahme der Entwickler gegenüber den Bedürfnissen der Nutzer verkaufte sich gut und setzte sich durch.
Auch in der internationalen Politik begann zur Jahrtausendwende der Wandel von Top-down zu Bottom-up. So sollten von der Politik Betroffene stärker in den Gestaltungsprozess einbezogen werden. Da der Einbezug der einfachen Menschen in internationale Politik aufgrund fehlender digitaler Mittel noch nicht möglich war (inzwischen gibt es hierfür erste Ansätze, wie zum Beispiel die Gründung von Datenkooperativen2), konzentrierte man sich vor allem auf den Einbezug von Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen.
Der UN-Generalsekretär Kofi Annan machte 1999 beim Weltwirtschaftsforum einen Vorschlag an die größten und einflussreichsten Unternehmen dieser Welt: „I propose that you, the business leaders gathered in Davos, and we, the United Nations, initiate a global compact of shared values and principles, which will give a human face to the global market.”3 Unternehmen (später auch andere Organisationen), die diesen UN Global Compact unterschreiben, stimmen zehn Prinzipien aus den Bereichen Menschenrechte, Umweltschutz, Arbeitsrechte und Antikorruption zu, um die Globalisierung sozialer und ökologischer zu gestalten. Im Millenniumsjahr unterzeichneten die ersten 50 multinationalen Unternehmen den UN Global Compact. Inzwischen verpflichteten sich über 13.000 Teilnehmer.
Im Rahmen dieses UN Global Compact kam es zur Formulierung der weithin verbreiteten ESG-Kriterien (E für Environment - Umwelt, S für Social - Soziales und G für Governance - Organisationsführung). 2004 veröffentlichten Akteure im Finanzsektor den Bericht „Who Cares Wins“. Er empfahl, den ESG-Kriterien in allen Bereichen der Wirtschaft Beachtung zu schenken, denn Unternehmen, die die drei Bereiche Umweltschutz, Soziales und Organisationsführung in ihre Investitionsentscheidungen einbeziehen, würden kompetitiv besser dastehen.
Da wahrscheinlich die technischen Voraussetzungen fehlten, um die Bürger in die komplexe internationale Politik einzubeziehen, wurden ihre Wünsche durch die Formulierung von Entwicklungszielen eigebracht. Nachhaltiges Handeln bedeutet langfristiges Denken. Doch wie kann dies umgesetzt werden, wenn zu viel Unsicherheit bezüglich mittel und langfristiger Entwicklungen besteht?
Die immerwährenden Bedürfnisse formulierten die UN als die globalen Kriterien für ein würdevolles Leben, zuerst formuliert in den Millennium Development Goals (MDGs)4 und später in den Sustainable Development Goals (SDGs)5. Die Millennium Development Goals waren acht bis 2015 angesetzte Ziele (drei davon aus dem Bereich Gesundheit).6 Nachhaltigkeit fiel in dieser Erklärung nur im Zusammenhang ökologischer Nachhaltigkeit als eines der Ziele der MDGs.
2015 wurden Leitziele für die nächsten 15 Jahre, die 17 SDGs, verabschiedet. Die SDGs zur Sicherstellung von würdevollem Menschenleben war umfassend. Der Begriff nachhaltig (= sustainable) in seiner Bedeutung als nachwirkend und anhaltend war hier bereits Leitthema aller Ziele.
Mit den ESG-Kriterien im Gepäck kam es zur Verabschiedung weiterer internationaler Richtlinien, die das sozialverantwortungsvolle Handeln von Unternehmen und der Wirtschaft definieren und fördern sollen. Sie können als eine Gruppe der Wegbereiter der europäischen Gesetzgebung zur Nachhaltigkeitsberichterstattung gesehen werden.
2005 beauftragte Kofi Annan den Politikwissenschaftler John Ruggie damit, ein Konzept zu entwickeln, wie Staaten die Verantwortungsübernahme von Unternehmen beeinflussen können. Im Ergebnis wurden 2011 die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte publiziert, die Empfehlungen für Unternehmen formulieren. So sollen Unternehmen auf die Beachtung der Menschrechte außerhalb ihres Unternehmens aber innerhalb ihres Wirkungsbereichs, das heißt in ihrer Lieferkette, achten. Staaten haben die Aufgabe im Rahmen von nationalen Aktionsplänen, Unternehmen zu dieser Verantwortung zu verpflichten.
Deutschland nahm diese Aufgabe mit der Formulierung des Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte an. Der Aktionsplan macht Unternehmen auf ihre Verantwortung aufmerksam und endete mit der Prüfung, ob Unternehmen ihr nachkommen. Da dies nicht der Fall war, wurde 2021 das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verabschiedet. Unternehmen sind danach verpflichtet, Menschenrechts- und Umweltverletzungen innerhalb ihrer Lieferkette zu melden.
Zusätzlich kam es 2006 zur Gründung einer Investorengruppe, die sich mit Verabschiedung der UN-Prinzipien für verantwortliches Investieren zur Förderung der ESG-Kriterien verpflichteten. Teile dieser beiden UN-Prinzipienwerke wurden 2011 in die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, ursprünglich aus dem Jahr 1976, übernommen. Zusätzliche wurde 2010 die ISO-Norm 26000 veröffentlicht, die Kriterien für sozial verantwortungsvolle Unternehmensführung definiert.7
Unternehmen, die sich über ihre weitreichenden Auswirkungen in der vernetzten Welt bewusst werden wollten, müssen Daten dazu erfassen. 1997 startete die Global Reporting Initiative die Entwicklung eines Standards, der alle möglichen Berichtsgrößen für Unternehmen listet. In Zusammenarbeit mit interessierten Unternehmen wurden Berichtsgrößen definiert, die von Unternehmen in der freiwilligen Anwendung erprobt, kontinuierlich verbessert und angepasst werden. Die Entwicklung orientiert sich an der agilen Bottom-up-Arbeitsweise, wie sie am Beispiel der Digitalwirtschaft aufgezeigt wurde. Der internationale GRI-Standard ist inzwischen der bekannteste freiwillige Nachhaltigkeitsstandard. Das praxistaugliche Werk hat sich die EU zum Vorbild genommen und in entsprechender Weise die verpflichtenden Berichtsstandards zur CSRD, die ESRS, entworfen.
Bereits mit der Non-Financial Reporting Directive (NFRD) verpflichtet die EU 2014 große kapitalmarktorientierte Unternehmen, ihre Bilanzberichterstattung um die Berichterstattung zu nichtfinanziellen Tätigkeiten zu erweitern. Die nichtfinanzielle Berichterstattung ist für große Unternehmen seitdem Teil der Bilanz. Falschangaben in der nichtfinanziellen Berichterstattung haben demnach die gleichen Auswirkungen wie Falschangaben in der kaufmännischen Bilanz. Als Hilfestellung für diese zusätzliche Berichterstattung wurden NFRD-Leitlinien herausgegeben, die allerdings keinen vergleichbaren Umfang zu den ESRS aufweisen.
2019 folgte darauf in der EU eine Maßnahmenselbstverpflichtung im European Green Deal zur Erreichung der Ziele des Pariser Abkommens. Dazu gehörte es, die NFRD zu überarbeiten und einen eigenen verpflichtenden Berichtsstandard zu etablieren, der Greenwashingunterbindet. Außerdem sollte der Finanzsektor in die Finanzierungspflicht der grünen Wende eingebunden werden. So wurde 2019 die Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR) verabschiedet. Sie verpflichtet Finanzdienstleister dazu offenzulegen, inwieweit sie in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten investieren. Was als nachhaltige Wirtschaftstätigkeit definiert ist, bestimmt die EU-Taxonomie – bisher allerdings fast ausschließlich für ökologisch nachhaltige Tätigkeiten, eine Erweiterung um sozial nachhaltige Tätigkeiten wird gefordert.9
2022 folgte die Verabschiedung der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) sie ist umfangreicher als die NFRD, betrifft auch kleinere Unternehmen und dient als Bindeglied zwischen den verschiedenen Regularien zu nachhaltigem Wirtschaften. Die European Sustainability Reporting Standards (ESRS), aufgebaut ähnlich dem GRI-Standard, sind zum Teil schon publiziert und werden über die Jahre in Rückkopplung mit der Wirtschaft immer wieder von der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) angepasst werden.
1 Brundtland-Bericht (1987).
2 Stein et al. (2024): Improving Global Governance: Data Cooperatives for Global Cooperation. Think7 Policy Brief for G7 in Italy.
3 Eigene Übersetzung: "Ich schlage vor, dass Sie, die in Davos versammelten Wirtschaftsführer, und wir, die Vereinten Nationen, einen globalen Pakt gemeinsamer Wer-te und Prinzipien auf den Weg bringen, der dem globalen Markt ein menschliches Gesicht gibt." https://press.un.org/en/1999/19990201.sgsm6881.html.
4 https://www.un.org/millenniumgoals/bkgd.shtml
6 Die MDGs sind: Bekämpfung von extremem Hunger und Armut, Primärschulbildung, Geschlechtergleichstellung, Senkung der Kindersterblichkeit, Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern, Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten, ökologische Nachhaltigkeit, Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung.
7 Vgl. Die DIN ISO 26000 „Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen“, Bundesminis-terium für Arbeit und Soziales, 2011. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/a395-csr-din-26000.pdf?__blob=publicationFile&v=2
8 Eigene Übersetzung: Präambel des Pariser Abkommens, eigene Übersetzung.