Warum es sich lohnt nachhaltig in die Geschichte zu blicken

Warum es sich lohnt nachhaltig in die Geschichte zu blicken

 
05. April 2022

Nachhaltigkeit: Was lernen wir aus der Historie? Was tun gegen Voreingenommenheit und Expertenwiderstand? Warum Dinge wegwerfen, wenn man Sie reparieren kann? Warum Gelder anhäufen, statt zu teilen? Die EU-Taxonomie regelt die praktische Umsetzung der Nachhaltigkeit.

Kurzsichtigkeit statt historischer Weitblick

Was mich in der gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskussion zuweilen sehr irritiert, ist diese unglaubliche Fixierung auf die Gegenwart – vor uns die Steinzeit, nach uns die Sintflut. Es herrscht Kurzsichtigkeit statt historischen Weitblicks. Ansonsten würden wir sehen, welche unglaublichen Transformationsleistungen Menschen in den zurückliegenden Jahrhunderten nicht nur bewältigt, sondern auch aktiv gestaltet haben.

Historisches Interesse an Kindern und Enkeln

Als rasantes Wirtschaftswachstum in Oberitalien im 15. Jahrhundert das soziale Gleichgewicht der Städte bedrohte, gründeten die Städträte Mikrokreditbanken, boten Kleinkredite für die Armen, um Marktteilhabe für möglichst viele zu gewährleisten. Als im Bodensee Mitte des 16. Jahrhunderts der Fischbestand zurück ging, reagierten die Fischerzünfte mit Fangquoten, Erweiterung der Maschengröße und Schonzeiten, um die Katastrophe zu verhindern. Sie waren selbstverständlich an der nachhaltigen Nutzbarkeit der Ressource See interessiert. Hatten ein Interesse daran, dass auch ihre Kinder und Enkel dort ihr Einkommen finden sollten.

Menschen können Veränderung.

Warum ist der Widerstand oft immer noch so groß? Transformation ist schwierig, bereitet vielen Unbehagen. Die Voreingenommenheit, auch Status Quo Bias genannt, scheint übermächtig. Dazu eine Episode aus dem 18. Jahrhundert. Es herrschte Rohstoffknappheit bei der Papierproduktion – ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung. Papier wurde seinerzeit aus Lumpen, aus Hadern hergestellt – eines der wohl ältesten und erfolgreichsten Recyclingprodukte überhaupt. Doch im 18. Jahrhundert stieg der Papierbedarf und die Lumpen als Rohstoff reichten nicht mehr aus.

Die Suche nach alternativen Rohstoffen lief auf Hochtouren. Jakob Christian Schäffer war einer dieser Tüftler, er experimentierte mit Pappelsamen, Samenwolle, Gras, Stroh, Flechten, Pilzen, Wespennestern und Hanf und veröffentlichte dazu ein umfangreiches Forschungsportfolio (> siehe dazu: https://www.deutsches-museum.de/forschung/bibliothek/unsere-schaetze/technik/versuche-papier-zum-machen).

Der Irrtum der Experten: Von der Papierproduktion im Mittelalter bis zur Neuzeit

Die Reaktionen seiner Zeitgenossen waren zwiespältig. Besonders die Experten der Papierproduktion waren skeptisch, reagierten mit dem erhobenen Zeigefinger: gemach gemach, junger Mann! Ganz besonders lautstark meldete sich ein gewisser Georg Christoph Keferstein zu Wort: Ein angesehener Papiermüller aus Kröllwitz, unweit von Halle, Meister seines Handwerks, ein Experte! Er schrieb ein Brevier über die hohe Kunst der Papiermacherei, inklusive einer Warnung an seine 15 Söhne vor den neumodischen Erfindungen des Dilettanten Schäffer. Seine Argumente gegen Innovation könnten aus dem Jahr 2022 stammen:

  1. Das geht nicht! Grad so wenig wie man aus Hafer Weizen oder aus Eisen Gold machen kann, lässt sich aus Hanf Papier machen.
  2. Was soll das bringen? Was hat die Welt davon, wenn sie weiß, dass sich auch dürre Blätter zermalmen und zu einer Art untauglicher Makulatur verwandeln lassen?
  3. Wir brauchen keine Alternativen! Lumpen wird es immer geben. Solange Menschen auf dem deutschen Boden sind, so gebrauchen dieselben Kleider.
  4. Der Markt wird das schon regeln! Die Technik ist da, und Angebot und Nachfrage bestimmen, was produziert wird.
  5. Alles nur Panikmache! Papiermangel wird total übertrieben. Schon immer hat es Konjunkturkrisen gegeben!
  6. Mögen die Spinner doch erst einmal liefern. Es gäbe – so der erfahrene Unternehmer – immer lustige Köpfe, die irgendwelche verrückten Ideen hätten. Aber es solle doch bitte erst mal einer ein nützliches Werk produzieren, auf das man schreiben und drucken könne.

Als Experte sah der erfahrene Papiermacher einfach keinen Handlungsbedarf. Ähnlich wie angeblich Thomas Watson, Vorstand von IBM, der nach der Entwicklung des ersten Großcomputers im Jahr 1943 den weltweiten Bedarf an solch neumodischen Geräten auf maximal fünf Geräte schätzte.

Blindes Vertrauen in bewährte Technik führt zu Fehlschlüssen

Wie kann es zu solchen Fehleinschätzungen kommen? Das liegt ganz sicher nicht daran, dass Keferstein oder Watson zu wenig wussten oder sich nicht gut genug auskannten in ihrer Branche. Es liegt vielmehr an zu viel Selbstsicherheit und sturem Vertrauen in bewährte Technologie. Diese macht zuweilen blind für aktuelle Entwicklungen und Bedürfnisse gegenwärtiger und künftiger Generationen.

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Prof. Dr. Annette  Kehnel
Über
Prof. Dr. Annette Kehnel
Prof. Dr. Annette Kehnel Studierte Geschichte und Biologie an der Albert-Ludwigs Universität in Freiburg; am Sommerville College Oxford und an der LMU München. Ihr Promotionsstudium am Trinity College in Dublin widmete sie der Erforschung irischer Klostergemeinschaften. Nach der Promotion arbeitete sie an der TU Dresden, wo sie sich im Jahr 2004 habiliterte. Seit 2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität in Mannheim. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen zu ihren Forschungsschwerpunkten Kultur- und Wirtschaftsgeschichte und historische Anthropologie vorgelegt. 2021 erschien beim Verlag Blessing ihre Veröffentlichung „Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit“, die mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde.
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