Was mich in der gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskussion zuweilen sehr irritiert, ist diese unglaubliche Fixierung auf die Gegenwart – vor uns die Steinzeit, nach uns die Sintflut. Es herrscht Kurzsichtigkeit statt historischen Weitblicks. Ansonsten würden wir sehen, welche unglaublichen Transformationsleistungen Menschen in den zurückliegenden Jahrhunderten nicht nur bewältigt, sondern auch aktiv gestaltet haben.
Als rasantes Wirtschaftswachstum in Oberitalien im 15. Jahrhundert das soziale Gleichgewicht der Städte bedrohte, gründeten die Städträte Mikrokreditbanken, boten Kleinkredite für die Armen, um Marktteilhabe für möglichst viele zu gewährleisten. Als im Bodensee Mitte des 16. Jahrhunderts der Fischbestand zurück ging, reagierten die Fischerzünfte mit Fangquoten, Erweiterung der Maschengröße und Schonzeiten, um die Katastrophe zu verhindern. Sie waren selbstverständlich an der nachhaltigen Nutzbarkeit der Ressource See interessiert. Hatten ein Interesse daran, dass auch ihre Kinder und Enkel dort ihr Einkommen finden sollten.
Warum ist der Widerstand oft immer noch so groß? Transformation ist schwierig, bereitet vielen Unbehagen. Die Voreingenommenheit, auch Status Quo Bias genannt, scheint übermächtig. Dazu eine Episode aus dem 18. Jahrhundert. Es herrschte Rohstoffknappheit bei der Papierproduktion – ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung. Papier wurde seinerzeit aus Lumpen, aus Hadern hergestellt – eines der wohl ältesten und erfolgreichsten Recyclingprodukte überhaupt. Doch im 18. Jahrhundert stieg der Papierbedarf und die Lumpen als Rohstoff reichten nicht mehr aus.
Die Suche nach alternativen Rohstoffen lief auf Hochtouren. Jakob Christian Schäffer war einer dieser Tüftler, er experimentierte mit Pappelsamen, Samenwolle, Gras, Stroh, Flechten, Pilzen, Wespennestern und Hanf und veröffentlichte dazu ein umfangreiches Forschungsportfolio (> siehe dazu: https://www.deutsches-museum.de/forschung/bibliothek/unsere-schaetze/technik/versuche-papier-zum-machen).
Die Reaktionen seiner Zeitgenossen waren zwiespältig. Besonders die Experten der Papierproduktion waren skeptisch, reagierten mit dem erhobenen Zeigefinger: gemach gemach, junger Mann! Ganz besonders lautstark meldete sich ein gewisser Georg Christoph Keferstein zu Wort: Ein angesehener Papiermüller aus Kröllwitz, unweit von Halle, Meister seines Handwerks, ein Experte! Er schrieb ein Brevier über die hohe Kunst der Papiermacherei, inklusive einer Warnung an seine 15 Söhne vor den neumodischen Erfindungen des Dilettanten Schäffer. Seine Argumente gegen Innovation könnten aus dem Jahr 2022 stammen:
Als Experte sah der erfahrene Papiermacher einfach keinen Handlungsbedarf. Ähnlich wie angeblich Thomas Watson, Vorstand von IBM, der nach der Entwicklung des ersten Großcomputers im Jahr 1943 den weltweiten Bedarf an solch neumodischen Geräten auf maximal fünf Geräte schätzte.
Wie kann es zu solchen Fehleinschätzungen kommen? Das liegt ganz sicher nicht daran, dass Keferstein oder Watson zu wenig wussten oder sich nicht gut genug auskannten in ihrer Branche. Es liegt vielmehr an zu viel Selbstsicherheit und sturem Vertrauen in bewährte Technologie. Diese macht zuweilen blind für aktuelle Entwicklungen und Bedürfnisse gegenwärtiger und künftiger Generationen.